Viele wichtige Ereignisse im Leben Jesu hängen mit der Stadt Jerusalem zusammen. Jerusalem war für jedes Mitglied des jüdischen Volkes ein religiöser und politisch relevanter Ort – es war die Hauptstadt des Nordreichs Israel und hatte außerdem etwas sehr Wichtiges: den Tempel.
Für einen jüdischen Gläubigen ist der Tempel kein gewöhnlicher Ort des Gebetes. Der Tempel ist ein Bauwerk, nach dem sich Generationen frommer Angehöriger des Volkes Israel sehnten, denn er bedeutete Gottes endgültigen Wohnsitz inmitten seines Volkes (2 Sam 1-29), den letzten Akt der Aufnahme in die Gemeinschaft des Volkes, das der Herr selbst das kostbarste Gut nennt (Ex 19, 5).
Aber die Israeliten erhielten durch den feierlichen Einzug Jesu in Jerusalem viel mehr als ein Gebäude, welches sie jahrhundertelang erbauten, errichteten und betreuten.
Auch wenn sie glaubten, dass durch die heiligen Zeichen des Bundes, die Bundeslade, des dort verwahrten Wortes Gottes und anderer Zeichen der Führung und Gegenwart Gottes, des Stabes Mose und eines Stückes vom Manna aus der Wüste, Gott immer unter ihnen gegenwärtig ist, erfüllte sich seine Gegenwart, wie er es wünschte, erst mit der Menschwerdung. Die Intuition, stark geprägt vom Wunsch des Volkes nach jemandem, der Israel wohlwollend regieren wird, wie einst der geliebte König David, tauchte mit Jesus erneut auf, brachte aber diesmal den Unterton jener Freiheit mit sich, die die Israeliten vor dem Aufbruch aus der ägyptischen Sklaverei spürten.
Dieser glorreiche Akt der Befreiung lebte im kollektiven Gedächtnis der Gläubigen als Versprechen, dass ihr Gott kommen würde, um sie zu retten, dass er sie nicht verlassen würde, dass er ihnen Frieden und Herrscher geben würde, die ihren Dienst im Interesse der Menschheit verrichten würden. Zur Zeit Jesu und der Apostel, der Herrschaft des römischen Kaisers Tiberius und der Herrschaft des Tetrarchen von Galiläa, Herodes, war es gleichermaßen schwierig, Frieden und Wohlstand zu erreichen wie zur Zeit der ägyptischen Sklaverei. Emotional fällt alles noch schwerer, denn die Israeliten befinden sich in ihrer Heimat, aber sie sind in ihr nicht frei. Sie können sich nicht auf die Suche nach einem neuen Gelobten Land begeben, denn sie haben dieses „bekommen“. Deshalb leuchtet die Gegenwart Jesu in dieser Verzweiflung noch heller: Vor ihnen steht vielleicht ein Prophet, vielleicht ein Wundertäter, vielleicht ein zukünftiger Herrscher, der Menschensohn, der verheißene Erlöser. Die Begeisterung an der Schwelle zur möglichen Erlösung wächst.
Er zieht als König in Jerusalem ein, nicht weil er dem Volk eine Art Scheinhoffnung geben oder im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen möchte, sondern weil er ihm bestätigen will, was der Tempel schon lange bedeutete: „Mensch, dein Gott ist mit dir".
Und jetzt, da sie Jesus sehen, Gott in Leibesgestalt, kann sich das Volk diesen Augenblick im Gedächtnis einprägen, da das Leiden desselben Jesus beginnt, denn sie werden ihn bald verraten. Oh, wie wankelmütig und selbstsüchtig wir Menschen doch manchmal sind! Was wir am liebsten haben, überlassen wir den Launen/Moden des Moments (was manchmal lange anhält) und verwerfen es augenblicklich. „Hosanna dem Sohne Davids!“ wurde sofort zu „Kreuzige ihn, kreuzige ihn!“ Aber Gott rechnet damit, sein Sieg kann nicht durch unsere Sünde aufgehalten werden. Jesus ist sich bewusst, dass er in einigen Tagen sein Leben für dieselben Menschen geben wird, die ihm jetzt zujubeln, aber er möchte immer noch bei ihnen sein. Er möchte mit denselben Menschen zusammen sein, die sich eine Zeit lang nach ihm sehnen, und ihn bald gerne loswerden möchten. Mit unserem geistlichen Leben ist es genauso: Wir brauchen Gott aus einem Grund, wir beten zu ihm, wir wollen, dass er uns erhört und uns hilft, und gleichzeitig wünschen wir uns, dass er nicht da wäre, dass er sich nicht mit seinem Willen in unsere Pläne einmischt. Es ist wahr, dass wir Gott immer brauchen, und was noch besser ist, Er möchte immer da sein. Er möchte nicht Gast in unserem Leben sein, den wir einladen, wenn wir etwas brauchen, aber es kaum erwarten können, dass er wieder geht, damit wir nach einem anstrengenden Treffen ausruhen können. „Oh, Gott sei Dank ist er gegangen! Es ist wahr, dass wir uns schon lange nicht gesehen haben, aber er ist anstrengend!“ (Erkennen Sie die Ironie?)
Jesus lässt sich nicht durch unsere momentane Flucht, die Müdigkeit, die menschlichen Einschränkungen und nicht einmal von echter Bosheit stören. Er sah all das schon bei den Aposteln. Er weiß, dass ihn einer verraten, ein anderer verleugnen und der Rest (außer Johannes und den Frauen) auseinanderlaufen wird. Wiederum, er kann kaum den Augenblick erwarten, wo er allein mit ihnen im angemieteten Raum sein wird, dort das Pashafest feiern, und ihre Trauer in Freude verwandeln wird (Ps 30, 12), denn er über(hinter)lässt sich ihnen in Gestalt von Brot und Wein am eucharistischen Tisch.
Niemand kann uns diese Gemeinschaft, diese Einheit nehmen, weder ein Herrscher noch ein Machthaber oder ein Tyrann. Wir können uns nur selber diese Gemeinschaft mit Christus nehmen, wenn wir nicht akzeptiert haben, dass wir der Sünde zugeneigt sind und dass uns Umkehr nötig ist. Aber immer bleibt am Ende die Hoffnung, denn die ausgestreckte Hand des Herrn wartet trotzdem, uneingeschränkt dessen, ob wir gesündigt haben, und ein reumütiges Herz ist ihm am liebsten. Wahrlich, obwohl er nie mit einer Krone aus Gold, sondern nur mit einer Dornenkrone gekrönt wurde, ist Jesus der wahre König, denn ihn interessiert kein Thron, sondern nur unser Herz.
Möge uns an diesem Sonntag des Leidens des Herrn am Herzen liegen, dass wir dieses kostbare Eigentum Gottes sind, und die Palmkätzchen, die wir während der Prozession in den Händen halten werden, sollen ein Zeichen der Versöhnung mit Ihm sein.
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